Artischocken in der Bretagne

1985 sind ein paar heute noch Aaah- und Oooh-auslösende Dinge passiert: Boris Becker gewann mit 17 Jahren Wimbledon, Tetris wurde progammiert und Bruce Springsteen war mit „Born in the USA“ für rund 11 Wochen auf Platz eins der deutschen Albumcharts. Es gibt allerdings eine Sache, die all das in den Schatten stellte – zumindest für mein damaliges Empfinden als 6-jähriger im Familienurlaub in der Bretagne: Meine ersten Artischocken. 

Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht der unverwechselbare Geschmack oder die Frische des Gemüses waren – wir haben die damals direkt vom Feld gepflückt. Was dem deutschen der Maiskolben ist, ist dem Franzosen die Artischocke? Ich weiss es nicht, aber ich fand weniger das Gemüse an sich faszinierend oder ganz außergewöhnlich lecker, als das drumherum abenteuerlich. Auf dem Rückweg vom Strand kurz am Feld angehalten, ein paar Artischocken mitgenommen und mit in die Ferienwohnung, war allein, da halb-illegal, ein Abenteuer für sich. Die Artischocken wurden dann, während man sich das Salz und den Sand vom Körper duschte und eine ordentliche Ladung Lotion gegen Sonnenbrand aufgeschmiert bekam, in Salzwasser gekocht. Dazu wurde eine einfache Vinaigrette aus Olivenöl, Weißwein-Essig, Salz, Pfeffer, Oregano, ein wenig Dijon-Senf und fein gehackten Schalotten in die Mitte des Tisches gestellt. Das beste am ganzen Essen war, das man mit den Händen essen durfte. Die ganze Artischocke wurde Blatt für Blatt, nie ohne den dippenden Umweg durch die Schüssel mit der Vinaigrette, regelrecht abgearbeitet. Total geplättet vom einem Tag in der bretonischen Sonne, wurde mit letztem Aufbäumen für das Abenteuer „Artischocken essen“, die letzte Kraft mobilisiert.

Man isst von den Artischockenblättern nur den unteren fleischigen Teil, den man beim Abziehen von dem Gemüse automatisch vom Boden trennt. Die kleinen weichen Blätter in der Mitte wurden entfernt und genauso das Heu, auf das man im Inneren stößt. Bevor man nämlich an den Boden der Artischocke kommt, der die Maßlosigkeit des Genusses ist, wenn man zuvor immer wieder an den Blattenden fast schon bayerisch gezuzelt hat, muss man das klebrige Heu entfernen. Wenn man das nicht gewissenhaft macht, verdirbt es einem den späteren Genuss, weil man immer mal wieder das Gefühl bekommt ein paar weiche Gräten im Mund zu haben – also musste man das ordentlich machen, nicht ohne die Kontrolle von Papa, der sicherstellte, das auch alles Heu entfernt war. Denn wenn alle soweit waren, warfen die versammelte Familie die Böden der Artischocken in die Schüssel mit der Vinaigrette, ging die Hände waschen und wurde so auch das Heu an den Fingern wieder los, bevor man die eingelegten Böden nun mit der Gabel aus der Schüssel angelte und meist mit total übermüdetem Schweigen verspeiste. Vor dem Schlafen gehen habe ich dann aber doch eher an Boris Becker und nicht an Artischocken gedacht und mich drauf gefreut, dass ich selber in 11 Jahren Wimbledon gewinnen werde. Das hat nicht ganz geklappt. Aber die Artischocken mache ich heute noch genauso – ohne den Strandtag in der Bretagne, dafür manchmal mit Bruce Springsteen im Ohr.

Artischocken

Die Vinaigrette pro Artischocke:
6 EL Olivenöl
2 EL Weißweinessig
1 kleine fein gehackte Schalotte
1 Messerspitze Dijonsenf
1 TL getr. Oregano
Salz und Pfeffer

Alles verrühren und mit Salz & Pfeffer abschmecken. Von den Artischocken bricht man den Stiel ab und löst die unansehnlichen Blätter, bevor man diese so lange in Salzwasser kocht, bis sich die ersten Blätter außen leicht lösen lassen – je nach Größe der Artischocke dauert das 15-25 Minuten. Lasst es Euch schmecken!

  1. kochessenz

    Artischocken sind großartig – ich hab das erst viel später gemerkt, nach den ersten aus der Dose mit Mite 20 hab ich frische zum ersten Mal mit Mitte 30 gegessen und selber gemacht mit Mitte 40 :) Also eine 20-jährige Erweckungsphase! Als Sauce nehme ich heute gerne neben Vinaigrett auch eine Remoulade wie hier: http://bit.ly/cKmWHoGrüße!Martin

    Juni 29th, 2010 //
  2. Bolliskitchen

    Glück gehabt mit den gendarmes, dass sie es nicht gesehen haben….Ich esse noch lieber die kleinen violetten aus dem Süden….

    Juni 30th, 2010 //
  3. Paul Fritze

    Martin: Remoulade klingt toll; das probiere ich mal aus.Bolliskitchen: „Papa“ hätte mich beschützt ;)

    Juni 30th, 2010 //

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