Zum Beispiel Falah
Ein Gastbeitrag von Joerg Utecht.
Er war der Mann mit den traurigen Augen. Als ich ihn kennenlernte, vor einem Jahr in den zur Notunterkunft umfunktionierten Landarbeiterbehausungen beim Bauern Kallen, war er der stillste unter meinen 10 bis 15 Männern. Während die anderen Syrer aus Aleppo, Homs und Daraa mich umgehend Teil haben ließen an ihren Geschichten von Krieg und Vertreibung, von zerstörtem Glück und ihrer Hoffnung auf einen Neuanfang – mit Händen und Füßen erst und dann über die Monate immer besser im gemeinsam erarbeiteten Deutsch – stand Falah meist abseits. Die Afrikaner überspielten ihr Leid mit lauter Lebensfreude, wenn sie aus dem Westen des Kontinents stammten, und mit einer Mischung aus Härte und Unterwürfigkeit, wenn ihre Herkunft Eritrea war oder Somalia oder Sudan. Der Albaner war cool, weil sein einziges Leid in einem Leben ohne Perspektive bestand und er dennoch spielerisch einen Ausweg suchte aus dieser offensichtlichen Sackgasse. Wir haben viel gelacht, alle zusammen. Falah schwieg.
Als Kurde stammt er aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet und ist Mitte 2014 geflohen, als der Druck durch den verstärkt Boden gewinnenden IS unerträglich wurde und als Reaktion darauf die Volksverteidigungseinheiten YPG wohl alles unter Waffen zwangen, was solche nur halten konnte. Falah wollte nicht und machte sich auf den Weg gen Westen, meist zu Fuß. Er nahm die klassische Route durch die Türkei, mit dem Paddelboot nach Griechenland, durch Mazedonien bis nach Serbien. Hier und in Ungarn machte er Bekanntschaft mit allerlei Rassisten und Sadisten in Reihen der lokalen Polizei und zweifelte nackt und zusammengeschlagen zweimal am Erfolg seiner Flucht. Er verlor alle Selbstsicherheit und Vorfreude und die jugendliche Unbekümmertheit sowieso – hielt aber durch. Und gelangte schließlich über Österreich und eine westfälische Erstaufnahmeeinrichtung in die niederrheinische Provinz.
Im Nachbardorf wollte die Gemeindeverwaltung eine kleine, kaum genutzte Turnhalle herrichten für eine Gruppe alleinstehender junger Männer, die wie Falah nun zu uns kamen als Gäste. Als das bekannt wurde, bildete sich binnen Minuten eine Initiative von besorgten, wehrhaften Bürgern. Es war Advent und die ersten Kerzen brannten in den eicherustikalen Wohnzimmern und das Ressentiment feierte fröhliche Urständ. Ich kannte das bisher nur aus den Nachrichten, solch bizarr asoziales Verhalten, notdürftig verbrämt mit Ängsten um die eigne Identität. Der Heimatverein traf sich nämlich zweimal im Jahr in den nun zur Disposition stehenden Räumen. Allerdings ging der Dörfler- Aktionismus komplett nach hinten los. Bruno Kallen kam ins Spiel und holte die Männer auf seinen Hof. Ihm waren die latenten Drohungen der Nachbarschaft egal. Viele Menschen gingen hin und wollten helfen, auch ich kam so zu meinen Männern. Seitdem rede ich mit ihnen. Konfrontiere sie mit unserer Sprache und der Wucht hiesiger Gebräuche. Wir kochen zusammen und essen Dinge, die ich so nicht kannte. Wir bezwingen gar das Monster Bürokratie, mit vereinten Kräften und wenn wir mal scheitern, lachen wir darüber. Über die Monate habe ich auch Falah hin und wieder die Mundwinkel verziehen sehen. Zu einer Art Lächeln.
Seit dem Frühjahr nun ist meine Gruppe gewachsen auf ca. 30 Männer, sie wohnen inzwischen in einem alten Haus im Zentrum von Korschenbroich und erwehren sich der deutschen liebsten Feinde, der aufmerksamen Nachbarschaft. Haustüren, die offen stehen, Mülltonnen am falschen Platz, laute Musik am heiligen Sonntag. Immer wieder und am besten hilft bei allen alltäglichen Herausforderungen Humor. Neben Nachbarn heißen diese Prüfungen gerne mal Hausmeister und GEZ, Ordnungsamt und Jobcenter, Bahnkontrolleur und Supermarktverkäufer, BAMF-Hotline und Ausländeramtsschimmel, Briefe und Formulare. Die deutsche Schriftkultur, auch dies eine Erkenntnis des letzten Jahres, ist ein Instrument sozialer Selektion und Speerspitze der systemimmanenten Ausgrenzung des jeweils Fremden. Uns Schriftgelehrten obliegt es, das Biest zu besiegen. Manchmal hilft neben Humor auch Pathos.
Auch Falah ist ein Mann, dem das Pathetische nicht fremd ist. Wenn er vom Kurdischen an sich erzählt, zum Beispiel. Das ist genauso befremdlich wie spannend. Das erste Mal ein Funkeln in den Augen, das an einen fernen Stolz erinnerte, hatte er an dem Tag, als seinem Asylantrag stattgegeben wurde, nach elf Monaten. Kurz darauf begann endlich der tägliche Unterricht im Rahmen des Integrationskurses, wir hatten gut vorgearbeitet, er war der beste seiner Gruppe und auch hieran wuchs er ein Stück. Heute nun besuchte ich ihn im Imbiss in der Dorfmitte, wo er seit einigen Tagen arbeitet. Er backt dort wieder Brot, wie er es schon in Syrien tat. Und hat dort einen Zettel an die Tür gehängt: „Junger Mitarbeiter sucht Apartment“. Ich bin mir sicher, dass er eine Wohnung finden wird, hier am Niederrhein. Auch wenn inzwischen über 650 Flüchtlinge allein in unserer Kommune dasselbe versuchen. Ihm ist eine Kraft erwachsen aus der Trauer, die Scheitern einfach nicht als Option anerkennt. Er wird dennoch mit einer Vielzahl an Unbill konfrontiert werden weiterhin. Ich werde versuchen dazu sein für ihn, dann.
Foodblogger-Kollege Joerg Utecht schreibt über kulinarische und popkulturelle Themen. Er ist einer derjenigen, die sich seit vielen Monaten (Jahren?) dauerhaft für die Integration von Flüchtlingen engagiert, die in seiner Heimat am Rhein ankommen. Es wird vermittelt, gekocht und sich ausgetauscht. Joerg lebt Integration. Jeder hilft wie er kann.